Die passive Nutzung der Sonnenenergie, so wie
wir sie heute verstehen, braucht Platz: Das Sonnenlicht muss die Gebäude
erreichen, in die Wohnungen eindringen und darf in seinem Lauf nicht durch
andere Gebäude behindert werden. Solche optimale Verhältnisse bestehen in alten
Städten nur selten, denn die Häuser stehen dicht gedrängt beieinander, und als
die Städte noch von Mauern umgeben waren, standen sie noch dichter. Das
Maximum, das man in einer Stadt des Altertums erreichen konnte, war, jeder
Wohnung ein bisschen Licht und ein Blick zum blauen Himmel zu geben. Das war
meistens auch genug, denn das Leben spielte sich hauptsächlich im Freien ab und
nicht in geschlossenen Räumen wie heute. Die Wohnungen, in denen die meisten
Städter lebten, waren dunkel und feucht und deshalb wenig gesund. Vielleicht
gerade deshalb haben die antiken Planungstheoretiker immer wieder betont, wie
wichtig gesunde Verhältnisse in der Stadt sind.
Die Wahl gesunder Orte
Alle antiken Autoren, die sich mit der Stadt
und der Stadtplanung beschäftigt haben, stimmen darin überein, dass eine Stadt,
in erster Linie, im Hinblick auf die Gesundheit ihrer Einwohner an einem
gesunden Ort und unter Berücksichtigung der örtlichen Klimaverhältnisse geplant
und gebaut werden muss.
Die Gesundheit eines Ortes, an welchem man eine Stadt oder ein Haus
bauen will, ist eines der grossen Themen Vitruvs (1). Die Kriterien, nach denen
man einen solchen Ort auswählen soll, lassen sich folgendem Auszug aus Vitruvs
Werk entnehmen (2):
„Beim Bau der Stadtmauern selbst
aber wird es folgende Grundsätze geben: erstlich Auswahl eines sehr gesunden
Platzes. Dieser aber wird hoch liegen, frei von Nebel und Reif sein, weder nach
der heissen noch nach den kalten Himmelsgegenden gerichtet, sondern den gemässigten
zugewandt; ferner (wird der Platz gesund sein), wenn die Nachbarschaft von
versumpften Gelände vermieden wird. Sooft nämlich mit Sonnenaufgang die
Morgenwinde zur Stadt gelangen, aufgestiegene Nebelschwaden sich mit ihnen
verbinden und sie mit ihrem Wehen die mit dem Nebel vermischten Ausdünstungen
von Sumpftieren auf die Körper der Einwohner ausstreuen, verseuchen sie den
Ort“.
“Ferner : wenn die Stadtmauern längs des Meeres stehen
und nach Süden oder Westen gerichtet sind, wird die Stadt nicht gesund sein,
weil im Sommer die südliche Himmelsrichtung bei Sonnenaufgang warm, um die
Mittagszeit glühend heiss wird. Ebenso wird, was nach Westen zu gerichtet ist,
nach Sonnenaufgang lauwarm, mittags warm, abends heiss. Daher werden die
Menschen, die sich an solchen Plätzen aufhalten, durch den Wechsel von
Erwärmung und Abkühlung krank“.
Für Vitruv ist ein Ort gesund, wenn er sich in
erhöhter, nebel- und frostfreier Lage befindet. Er rät ab eine Stadt nach Süden
(zu heiss) oder nach Norden (zu kalt) zu
orientieren und empfiehlt die Ausrichtung nach einer gemässigten
Himmelsrichtung, um extreme Temperaturunterschiede zu vermeiden. Es ist heute
schwierig zu beurteilen, von welcher Wichtigkeit den römischen Stadtplanern das
Kriterium „Gesundheit“ bei der Wahl von Standorten für neue Städte wirklich
war. Meistens hatte dieses Kriterium nur geringe Priorität.
Die alten italischen Siedlungen
lagen traditionell auf Anhöhen, auf Hügeln und Bergen, an Orten also, die sich
gut verteidigen liessen und die trocken und nebelfrei waren. Auch die Römer
bewohnten zuerst die Hügel Roms, den Palatin, den Esquilin und den Quirinal,
bevor sie im Tal und in der Ebene bauten, denn die Täler waren oft sumpfig und wurden
nach der Schneeschmelze und nach Wolkenbrüchen überflutet. Um in Rom das
sumpfige Tal zwischen Palatin und Viminal trocken zu legen, wurde die Cloaca maxima gebaut, der Überlieferung
nach, schon zur Zeit der Tarquinier-Könige, sicher aber erst später. Dort
entstand dann später das Forum Romanum.
Die Römer waren die ersten, die mit dieser alten italischen
Tradition, Siedlungen auf Anhöhen zu bauen, gebrochen haben. In Verlauf der schrittweisen
Erweiterung Roms und der Unterwerfung ganz Italiens begannen sie grosse Strassen
in der Ebene und in Tälern zu bauen und längs dieser Strassen neue Siedlungen
und Städte anzulegen, immer an strategisch und verkehrstechnisch wichtigen
Orten, ohne gross an die Gesundheit der Orte zu denken.
Ein Beispiel dafür ist Florenz, das als Kolonie für Cäsars
Veteranen nach 50 v.u.Z. gegründet wurde und zwar im Zusammenhang mit dem Bau
der Strasse zwischen Aretium (Arezzo) und Bononia (Bologna). Während die alte
Etruskerstadt in dieser Gegend, Faesulae
(heute Fiesole) sich auf einem Berg in etwa 300 Meter Höhe nördlich über den Arno
erhebt, entstand die Kolonie Florentia,
im Arnotal, ganz nahe am Fluss, an einem Ort, der alles andere als „gesund“
gelten konnte. Noch heute ist es in Florenz im Sommer häufig schwül, und die
Stadt ist oft durch das plötzliche Anschwellen des Arno von Überschwemmungen
bedroht.
Die Wahl des Standortes der Kolonie Florentia erfolgte eindeutig aus logistischen
Gesichtspunkten. Hier trafen drei Strassen zusammen: die aus Rom kommende Via Cassia und zwei alte
Etruskerstrassen, von denen die eine nach Volterra, die zweite nach Pisa und
ans Meer führte. Und genau diese logistisch und strategisch vorteilhafte Lage
erwies sich dann später als das entscheidende Moment für das wirtschaftliche
und politische Gedeihen der Stadt. Der Name Florentia
(die Blühende) war also nicht schlecht gewählt, denn später wurde Florenz ein
Zentrum des internationalen europäischen Handels.
Eine wenig gesunde Lage hat auch das heutige Terni in
Umbrien, das in römischer Zeit Interamna
hiess. Der vermutlich schon im 7. Jahrhundert v.u.Z. von den Umbrern angelegte
Ort wurde um etwa 290 v.u.Z. römisch. Die Stadt liegt im Tal des Flusses Nera (Nar), am östlichen Zweig der alten Via Flaminia, die damals von Rom nur bis
Rimini (Ariminium) führte. Der Kessel
von Terni (Conca ternana) ist heute
noch bekannt für seine extrem schwülen Sommer.
Man kann also sagen, dass bei der Wahl neuer römischer Siedlungsstandorte
logistische und strategische Gesichtspunkte überwogen. Diese haben sich jedoch
später oft vorteilhaft für die wirtschaftliche Entwicklung der Städte erwiesen
– wie im Falle von Florenz. Die Gesundheit eines Ortes war ein eher sekundäres
Kriterium bei der Standortwahl, auf jeden Fall war sie in der Praxis sehr viel
weniger wichtig als für Vitruv.
Wir kennen mehrere Fälle, in denen die Römer versucht haben,
die Gesundheit der Standorte durch Meliorationen künstlich zu verbessern, zum
Beispiel durch die Entwässerung versumpfter Gebiete. Oft waren diese Bemühungen
von Erfolg gekrönt, doch in der Endzeit des Kaiserreiches und nach den häufigen
Barbareneinfällen, fehlte vielfach die Kraft und das Geld, um die aufwendigen
Unterhaltsarbeiten an diesen Werken weiterzuführen, mit dem Ergebnis, dass das
Land aufs Neue versumpfte und erneut die Malaria um sich griff. Verschiedene
römische Städte wie Aquileia mussten aus diesem Grund aufgegeben werden.
Orientierung der
Strassen und der Häuser
Das Wort „orientieren“ bedeutet wörtlich
„nach Osten ausrichten“ (lat. oriens
= Osten). „Ex oriente lux” heisst es, „im Osten geht das
Licht (die Sonne) auf“. Osten ist genau dort,
wo am Tag der Tagundnachtgleichen am Morgen die Sonne am Horizont erscheint.
Columella, ein
römischer Schriftsteller der Bücher über Landwirtschaft geschrieben hat,
unterscheidet sogar drei verschiedene Osten: den oriens aequinoctialis, den Aufgangspunkt der Sonne am
Tag der Tagundnachtgleichen (21. März, 23. September), also den genauen geographischen
Osten; den oriens aestivalis, den Aufgangspunkt am Tag der Sommersonnenwende (21. Juni), etwa Nordosten;
und den oriens
brumalis, den Aufgangspunkt am Tag der Wintersonnenwende (22.
Dezember), etwa Südosten.
Das, was im Zusammenhang
mit dem klimagerechten Bauen vor allem interessiert, ist die Relevanz von Klima
und Sonne bei der Anlage der römischen Stadtgrundrisse und Stadtstrassennetze.
Genau wie die Griechen, gaben die Römer
neuen Städten orthogonale Stadtgrundrisse, das heisst Grundrisse mit
rechtwinklig sich schneidenden Haupt- und Nebenstrassen und rechteckigen Häuserblöcken
(oft insulae genannt). Die ersten,
die in Italien den orthogonalen Stadtgrundriss von den Griechen übernahmen und
anwandten, waren allerdings nicht die Römer, sondern die Etrusker. Sie haben
diesen Stadtplan wahrscheinlich kennengelernt als sie im 6. Jahrhundert v.u.Z. einen
Teil Kampaniens kolonisierten und somit in griechisches Einflussgebiet
vordrangen.
Allerdings kennen wir nur eine etruskische
Stadt, die nach orthogonalem Schema gebaut ist. Es handelt sich um die Stadt
auf der Ebene von Misanello, in der Nähe des heutigen Marzabotto, im Tal des
Reno südlich von Bologna. Die Stadt wurde in der Mitte des V. Jahrhunderts
v.u.Z. gegründet und hiess vielleicht Misa.
Sie hatte kein langes Leben. Schon um 350 v.u.Z. wurde sie nach einer Invasion
der Kelten aufgegeben. Die ausgegrabenen Reste der Stadt heute besichtigt
werden können.
Grundriss des etruskischen Marzabotto (Misa)
Das Schema dieser etruskischen Stadt ähnelt
dem der griechischen Kolonien Süditaliens: eine Aufteilung in langgestreckte,
rechteckige Häuserblöcke zur Aufnahme von ein- bis zweigeschossigen
Reihenhäusern. Zum Unterschied zu den Blöcken in den griechischen
Kolonialstädten haben die Häuserzeilen in Marzabotto jedoch nicht
Ost-West-Richtung, sondern verlaufen genau in Nord-Süd-Richtung.
Die später
von den Römern angelegten orthogonalen Stadtgrundrisse sind jedoch völlig anders
aufgeteilt. Die Häuserblöcke haben sehr unterschiedliche Proportionen, die vom
Quadrat bis zum langestreckten Rechteck reichen.
In den griechischen
Städten sind die Häuserblöcke langgestreckt und man begreift sofort in welche
Richtung die Häuserzeilen orientiert sind. In den römischen Städten ist man
bezüglich der Orientierung der Häuser wesentlich unsicherer, denn diese bilden
keine Zeilen. Ein Häuserblock konnte ein einziges Baugrundstück bilden wie zum
Beispiel in Timgad, oder in verschiedenster Weise parzelliert sein. Bei den
römischen Stadtgrundrissen lässt sich keine Vorliebe für ein bestimmtes
Teilungsmuster feststellen.
Augusta Taurinorum (Turin)
Unsere Kenntnisse
über die ursprüngliche, geplante Teilung der Häusergevierte, oft insulae genannt, ist sehr begrenzt, nicht
zuletzt weil der grösste Teil der von den Römern gegründeten Städte bis heute
fortbesteht und die Mauern aus römischer Zeit tief unter vielen späteren Bebauungsschichten
liegen. Unsere besten Kenntnisse von römischen Stadtgrundrissen stammen vorwiegend aus Städten, die schon im Altertum aufgegeben
und neuerer Zeit ausgegraben wurden. Dazu gehört eine Reihe von Städten in
Nordafrika (Timgad, Leptis Magna, Dougga usw.), in Italien sind es
hauptsächlich Pompeji, Herculaneum und Ostia und nördlich der Alpen Augusta
Raurica und Aventicum in der Schweiz. Natürlich kennen wir auch die
Strassennetze anderer römischer Städte, in Deutschland zum Beispiel, diejenigen
von Köln und Trier aber meistens nur ungefähr, so wie sie sich aufgrund von punktweisen
Ausgrabungen im Stadtraum rekonstruieren lassen.
Timgad in Algerien
Man muss natürlich auch bedenken,
dass in den antiken Städten mit orthogonalem Grundriss die Ausrichtung der
Strassen nur wenig Einfluss auf die Besonnung der ursprünglich ein- oder
zweigeschossigen Häuser und Wohnungen hatte. Die einzelnen Räume dieser Häuser
erhielten Licht und Sonne über einen Innenhof, so dass die Menge an Licht in
erster Linie von der Grösse dieses Hofes abhing. Die Besonnungsverhältnisse
verschlechterten sich dann mit der Zeit als man immer höhere Häuser baute.
Ausschluss der Winde
Vitruv widmet dem
Thema der “richtigen” Orientierung der Stadtstrassen ein ganzes Kapitel seines
Werkes, aber es geht ihm nicht um Sonne und Licht, sondern um den Ausschluss
ungesunder und lästiger Winde aus dem Stadtraum. Zum Thema der Ausrichtung der
Strassen nach den Himmelsrichtungen schreibt er Folgendes (3):
„Nach Anlage der
Stadtmauern folgt innerhalb dieser die Einteilung des Baugeländes und die
Ausrichtung der Haupt- und Nebenstrassen nach den Himmelsrichtungen. Diese aber
werden richtig ausgerichtet sein, wenn aus den Nebenstrassen auf kluge Weise
die Winde ausgeschlossen werden. Wenn diese (Winde) kalt sind, tun sie weh,
wenn sie warm sind, lassen sie kränkeln, wenn sie feucht sind, schaden sie (der
Gesundheit). Daher scheint man diesen Fehler vermeiden und abwenden zu müssen,
damit nicht geschieht, was in vielen Städten einzutreten pflegt. Z.B. ist auf
der Insel Lesbos die Stadt Mytilene prächtig und geschmackvoll gebaut, aber
nicht klug angelegt. Wenn in dieser Stadt der Südwind weht, erkranken die
Menschen, weht der Nordwestwind, dann husten sie, weht der Nordwind, werden sie
wieder gesund, aber in den Neben- und Hauptstrassen können sie wegen der
strengen Kälte nicht sehen bleiben“.
In
diesem Zusammenhang beschreibt Vitruv ausführlich ein geometrisches Verfahren
zur Konstruktion einer achteckigen Windrose, mit deren Hilfe sich die
„richtige“ Orientierung der Stadtstrassen ermitteln lässt (4). Die untenstehende Figur zeigt das Ergebnis
dieser Methode. Es ist ein Achteck, in dem der orthogonale Grundriss der Stadt
so eingeschrieben ist, dass keine der Strassenachsen auf eine der Ecken des Achtecks
weist. Das orthogonale Strassennetz ist um 22,5° gedreht, so dass die Strassen
in NNW-SSO-Richtung bzw. in ONO-WSW-Richtung verlaufen. Die Methode zur
Ausrichtung des städtischen Strassennetzes im Hinblick auf den Ausschluss der
störenden Winde aus dem Stadtraum erscheint wenig realistisch, weil die Winde
nicht unbedingt aus einer der acht Richtungen der Windrose wehen. Mithilfe
einer Windrose lässt sich nur die Windrichtung bestimmen und somit auch die
Richtung der an einem bestimmten Ort vorherrschenden Winde.
Ideale Orientierung der
Strassen nach Vitruv
In der
Tat findet man eine ungefähre Ausrichtung der Strassennetze, welche der von
Vitruv vorgeschlagenen entspricht, nur in wenigen römischen Städten, so in Aosta (23°), Augusta
Bagiennorum (23°), Minturnum (23°), Ostia (21°) Aquileia (19°) und Emona (19°)
(5).
Die
Theorie Vitruvs bezüglich der optimalen Ausrichtung der Stadtstrassen geht
wahrscheinlich auf einen griechischen Text von Andronikus aus Kyrrhos zurück.
Dieser Architekt hatte um 100 v.u.Z. in Athen einen achteckigen „Turm der
Winde“ gebaut, eine Art meteorologisches Observatorium, der es gestattete die
Windrichtung und Windhäufigkeit festzustellen. Dieser auch „Uhr des Andronikos“
genannte Turm steht heute noch am Rande der römischen Agora von Athen. In
seinem Inneren befand sich eine Wasseruhr (clessidra) und
auf jeder der acht Seiten stand der Name des entsprechenden Windes: borea (N), kaikias (NO), euro (O), apeliote (SO), noto (S), lips (SW), zefiro (W) e skiron (NW).
Der Turm der Winde am Rande der Römischen Agora in Athen
Der Ausschluss lästiger
Winde aus dem Stadtraum ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der Stadtplanung,
aber eine Stadt braucht auch eine gute Durchlüftung wie Aristoteles anmerkt.
Besonnung
Trotz der Wichtigkeit, die Vitruv der Frage der Winde
beimisst, so vertritt er jedoch auch die Meinung, dass eine Stadt weder nach
Süden, noch nach Norden schauen solle, sondern nach einer „gemässigten“
Richtung, um abnorme Temperaturschwankungen zu vermeiden. Vitruv (6) empfiehlt
den Architekten ausdrücklich das Studium der Astronomie, damit diese in der
Lage sind, das Problem der „richtigen“ Orientierung mit grösstem Sachverstand
angehen können.
Gaetano Vinaccia, ein italienischer Architekt, der sich in den 20er und
30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Problem der Orientierung im
römischen Städtebau beschäftigt hat, schreibt (7), dass der römische Städtebau praktischen
Überlegungen folgte, und dass in den orthogonalen Stadtplänen die Strassen so
ausgerichtet gewesen seien, dass sie die lästigen Winde ausschlossen und im
Winter den Gebäuden ein Maximum an Besonnung garantierten. Um den Gebäuden im
Winter ein Maximum an Sonne zu garantieren, hätten diese allerdings nach Süden
ausgerichtet sein müssen, und das waren sie nur selten, wenn man die
orthogonalen Grundrisse römischer Städte genau untersucht.
Der gleiche Autor (8) ist der Meinung, dass in Italien
„die Orientierungen der Gebäude und der Räume ausschliesslich nach „heliothermischen"
Gesichtspunkten erfolgen sollten“. „Heliothermisch“ nennt er den Umstand, dass
die täglichen Temperaturen nicht zur Mittagszeit am höchsten sind, wenn die
Sonne im Zenit steht, sondern einige Stunden später, wenn die Sonne gegen
Südwesten gewandert ist, und dass man diesem Umstand bei der Projektierung von
Bauwerken Rechnung tragen muss. Der Autor schliesst daraus, dass das
Strassennetz eines orthogonalen Stadtplans nie Nord-Süd-Richtung, bzw.
Ost-Westrichtung haben sollte, sondern seine Achsen in Nordost-Südwest, bzw.
Nordwest-Südost-Richtung verlaufen sollten. Dies sei für Italien die richtige
Ausrichtung und würde auch in Bezug auf die Winde stimmen. Auch die Ausrichtung
der warmen Bäder in den Thermen nach Südwesten sei aus „heliothermischen“
Gründen erfolgt und nicht weil die Badezeit am Nachmittag war wie Vitruv hervorhebt.
Vinaccia glaubt entdeckt zu haben, dass „die Strassennetze
sehr vieler italienischer Städte um etwa 30° von der Nord-Süd, bzw. von
Ost-West-Richtung abgedreht sind“ und dass diese Drehung zu einer ausgeglichenen
Verteilung der Besonnung führt, und zwar in der Weise, „dass selbst im Winter
die Nordseiten der Gebäude in den Genuss von etwas Sonne kommen“ (9). Das diese
Aussage ist nicht haltbar, was man leicht feststellen kann, indem man die tatsächliche
Orientierung der orthogonalen Strassennetze römischer Städte untersucht.
In einer Stadt hängt die Besonnung einzelner Gebäude
nicht zuletzt von der Breite der Strassen und der Höhe der Bauwerke ab, das
heisst vom Verhältnis beider Grössen. Die Strassen in den römischen Städten
hatten Breiten von 10, 15 und 20 Fuss (etwa 3, 4,5 und 6 Meter) und nur die
Hauptstrassen waren breiter. Oft erschienen sie jedoch enger infolge der Höhe
der Häuser oder waren tatsächlich schmaler, weil man verbotenerweise über die
Grundstücksgrenzen hinaus baute.
War die Bebauung jedoch nicht höher als zwei- oder
dreigeschossig, garantierten diese Strassenbreiten eine ausreichende Besonnung
der oberen Geschosse auch im Winter. Die höchsten Gebäude, etwa diejenigen, die
in der Kaiserzeit in Ostia gebaut worden sind, hatten bis zu fünf Stockwerken
uns lagen hauptsächlich an Plätzen oder breiteren Strassen. Aber einige dieser
Gebäude zeigen deutlich, dass ihre Erbauer nie an die Besonnung der Wohnungen
gedacht haben. Zum Beispiel gibt es Ostia im Viertel der „Häuser mit Garten“
zwei Wohnblöcke, die so orientiert sind, dass die Hälfte der Wohnungen nach
Süden, die andere Hälfte nach Norden blickt. Eine Ausgeglichene Besonnung der
Wohnungen war also nicht die Absicht des Architekten.
Wenn in Städten, die in Stadtmauern eingeschlossen sind, neue Wohnungen und Arbeitsstätten notwendig werden, neigt man dazu in die Höhe zu bauen und, folglich nimmt die Besonnung und die Belichtung der einzelnen Wohnungen unausweichlich ab. In einer Grossstadt wie Rom mit ziemlich engen Strassen und Häusern, deren Höhe bis zu sechs und sieben Stockwerke betrug, war an eine ausreichende Besonnung überhaupt nicht zu denken.
Die lex Iulia de modo aedificarum , ein Baugesetz aus der Zeit des Augustus begrenzte die Höhe der Gebäude in Rom
auf 70 Fuss (etwa 21 m) oder auf sechs bis sieben Geschosse (10), allerdings
nicht wegen der Belichtung der Wohnungen, sondern wegen der Einsturzgefahr,
denn der Einsturz von Gebäuden war keine Seltenheit. Unter Traian wurde diese
Höhe auf 60 Fuss (etwa 18 m) oder fünf bis sechs Geschosse herabgesetzt (11).
Die Bauwerke in anderen Städten waren wohl nicht so hoch wie die in der
Hauptstadt. In Ostia hatten die Häuser im allgemeinen zwei oder drei
Stockwerke, einige insulae hatten bis
zu drei Obergeschosse über einem sehr hohen Erdgeschoss.
Die Bestimmung der Ostrichtung
Bei der Centuriation, das heisst bei
Aufteilung des Landes in gleichgrosse Flächeneinheiten sowie bei der Anlage von
Stadtgrundrissen legten die römischen Vermessungstechniker (mensores) zunächst die Hauptachsen des orthogonalen
Gitters fest. Als Hauptachse galt der in Ost-Westrichtung verlaufende decumanus maximus, der in der Stadtmitte
von dem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden cardo
maximus gekreuzt wurde. In der Stadt folgten dem decumanus maximus und dem cardo maximus die städtischen
Hauptstrassen. Parallel dazu verliefen die Nebenstrassen.
Die römischen Vermesser, man weiss nicht
ob aus Bequemlichkeit oder aus Tradition, bestimmten die Ostrichtung nach der
aufgehenden Sonne. Als Osten galt ihnen der Punkt an dem die Sonne am Horizont
erschien und zwar am Tag, an dem sie mit der Vermessung begannen. Das geht jedenfalls aus einem Text Frontins (12) hervor, einem Ingenieur
des I. Jahrhunderts u.Z. (30-104 u.Z.).
Die Anwendung dieser Regel scheint Bestätigung zu finden
in der unterschiedlichen Ausrichtung der verschiedenen Centuriationen. Man
findet benachbarte römische Fluraufteilungen, die unterschiedliche Ausrichtung
haben und nimmt deshalb an, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten
erfolgten. Wenn das richtig ist, dann lässt sich an der Ausrichtung des decumanus maximus der Tag bestimmen, an
dem diese Achse angelegt wurde. Die Ausrichtung wäre dann so etwas wie ein
Fingerabdruck der Vermessung.
Basierend auf Frontin, nimmt man an, dass die römische
Kolonie Augusta Raurica, unweit des Rheins, im Gebiet des heutigen Kantons
Baselland, am 21. Juni gegründet worden
sei, denn der decumanus maximus weist
auf den Punkt (oriens aestivalis), an dem die Sonne an diesem Tag aufgeht (14).
Der Brauch, die Ost-West-Hauptachse nach dem Punkt des
Sonnenaufgangs festzulegen ist auch bei der Gründung christlicher Kirchen
beachtet worden. Ich selbst habe das an umbrischen Kirchen festgestellt, die
dem heiligen Lorenz (San Lorenzo) gewidmet sind, dessen Feiertag auf den 10.
August fällt. Die Regel schreibt vor, dass der Altar im Osten stehen soll. Also
muss man sich beim Bau einer Kirche zuerst über die Ostrichtung klar werden.
Offensichtlich begann man die Arbeiten an den dem Heiligen Lorenz gewidmeten
Kirchen am Tag des Patrons mit einem Fest und legte dabei die Ostrichtung nach
dem Sonnenaufgang fest.
Schlussfolgerung
Beim Betrachten der
orthogonalen römischen Stadtgrundrisse kommen einem Zweifel, dass diese unter besonderer
Berücksichtigung der Winde und der Besonnung geplant worden sind. Die
Orientierung dieser Grundrisse ist so unterschiedlich, dass es schwer fällt zu
glauben, dass die Besonnung bei ihrer Ausrichtung eine besondere Rolle gespielt
hat oder prioritär war.
Man muss sich jedoch
auch vergegenwärtigen, dass gute Besonnung und Durchlüftung nur
zwei von vielen Kriterien der Stadtplanung sind, die die Ausrichtung der
Strassen beeinflussen können. Andere, meist wichtigere Einflussgrössen sind die
Topographie des Gebietes, der Verlauf vorhandener Flussläufe und Strassen
sowie, im Fall römischer Stadtplanung, auch die die Stadt umgebende
Centuriation (Aufteilung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Grossquadrate
zum Zweck der Erstellung eines Katasters).
Heute sind die Faktoren, welche zu einer bestimmten Ausrichtung der
Strassen in den römischen Städten geführt haben, nur selten klar erkennbar. Was
die „richtige“ Orientierung betrifft, so haben die römischen Vermesser selbst
verschiedene Theorien vertreten. Nach einer dieser Theorien sollten die
Stadtstrassen die gleiche Orientierung haben, wie die Centuriation des
Umlandes. Das erscheint ziemlich akademisch, hat aber einen plausiblen Grund.
Wenn der gemeinsame Vermessungsmittelpunkt in der Stadt liegt, kann er sicherer
verankert werden als auf dem flachen Land, zum Beispiel an einem Gebäude.
Reste von Centuriationen sind vielerorts noch heute an alten Flur- und
Grundstücksgrenzen, Wegen und Strassenverläufen erkennbar, zum Beispiel in der
Poebene und im Schweizer Mittelland. Dass die Ausrichtung von Stadtstrassen der
Ausrichtung dieser Centuriationen folgt, ist ein äusserst seltener Fall, denn die
Topographie des Geländes, auf dem die Stadt angelegt wurde, scheint die
Ausrichtung der Stadtstrassen viel stärker beeinflusst zu haben als andere
Faktoren.
Imola an der Via Emilia
Die Centuriation ist noch gut im Wegenetz erkennbar
Viele neue römische Städte und Siedlungen sind allerdings
zusammen mit dem Bau grosser Römerstrassen entstanden. Und deren Linienführung
hat dann auch die Ausrichtung der Stadtstrassen bestimmt, denn die
Überlandstrasse wurde in der Stadt zur städtischen Hauptstrasse. Solche
Situationen finden wir zum Beispiel in der norditalienischen Region Emilia-Romagna, wo sich die Centuriation an
die Via Emilia anlehnt, die am Fusse des Apennin von Südosten nach Nordwesten
verläuft (Abweichung von der Ost-West-Achse 28°). Diese Ausrichtung der
Überlandstrasse hat auch die Ausrichtung der Stadtstrassen der Orte bestimmt,
die an der Via Emilia liegen, darunter diejenigen von Forum Corneli (Imola), Forum Livi (Forlì), Forum Popoli
(Forlimpopoli) und Faventia (Faenza).
Anmerkungen
(1) Vitruv. de arch., I, IV
(2) Vitruv, de arch., I, IV, 1(3) Vitruv, de arch., I, VI, 1
(4) Vitruv, de arch., I, VI, 12-13
(5) In Dougga (Tunesien) ist eine grosse Windrose mit 12 Winden erhalten
(6) Vitruv, de arch., I, I
(7) Vinaccia G.: Il problema dell’orientamento nell’urbanistica dell’epoca romana, Quaderni dell’Impero. [1] Istituto di Studi romani, Roma 1939
(8) Vinaccia, G. op.cit., S. 39
(9) Vinaccia, G: op.cit., S. 225 ff.
(10) Carcopino J.; La vita quotidiana a Roma, Roma-Bari 2008, S.34; Strabo, V, 3, 7
(11) Aur. Vict., Epit., 13, 13
(12) Front. 31,4. Hyg. Grom. 170,3; 182,8; 183,13
(13) Columella. De re rustica, Lib.I, cap. VI
(14) Laur-Belart, R.: Führer durch Augusta Raurica, op. cit., S. 10
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