“Licht,
Luft und Sonne” war das Motto der Architektur in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhundert, die von manchen als „Internationaler Stil“ bezeichnet wird. Unter
den Protagonisten dieser Architektur befinden sich Namen wie Le Corbusier
(1887–1965), Frank Lloyd Wright (1867–1959), Ludwig Mies van der Rohe
(1886–1969), Gerrit Rietveld (1888–1964) Walter Gropius (1883–1969), Erich
Mendelssohn 1887–1953), Marcel Breuer (1902-1981), Alvar Aalto (1898–1976),
Oscar Niemeyer (1907-2012), Hans Scharoun (1893–1972) und viele andere, weniger berühmte Architekten, die den
architektonischen Stil des letzten Jahrhunderts geprägt haben.
In der
Architektur jener Zeit spielt die Sonne eine wichtige Rolle, wenn auch nicht die,
welche heutigen Verfechter der Sonnenenergie und der erneuerbaren Energien im
Allgemeinen im Sinn haben. Diese sehen in der Sonne nur eine Energiequelle, mit
der sich Häuser heizen lassen und elektrischer Strom erzeugen lässt. Mit dieser
utilitaristischen Idee der hat die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts
wenig zu tun. Ihr Ziel war es, einem sozialen und gesundheitlichen Missstand
abzuhelfen. Sie wollte der arbeitenden Klasse, die weitgehend in viel zu engen,
düsteren und ungesunden Verhältnissen lebte, zu gesunden und wirtschaftlich
erschwinglichen Wohnungen zu verhelfen in denen es viel Licht und Sonne gab.
Um die
Bedeutung des Mottos „Licht, Luft und Sonne“ voll würdigen zu können, muss man
sich die Wohnverhältnisse vergegenwärtigen, in denen am Ausgang des 19.
Jahrhunderts viele deutsche Arbeiter lebten. Dann wird auch sofort klar, warum unter
den Vätern der modernen Architektur so viele deutsche Architekten waren.
Das Erbe des 19. Jahrhunderts
Um das
Jahr 1800 lebte in Deutschland nur etwa drei Prozent der aktiven Bevölkerung in
grossen Städten. Die meisten Menschen lebten auf dem Lande. Dort waren die
Lebensbedingungen alles andere als leicht. Die starke Zunahme der Landbevölkerung
und die „Befreiung“ der Landarbeiter, die bis dahin eng an den Grundbesitz
gebunden waren, hatten katastrophale Konsequenzen. Die Landwirtschaft war nicht
mehr in der Lage den Überschuss an arbeitsuchenden jungen Leuten zu
absorbieren. Diese Bevölkerung wuchs ständig und die Abschaffung der
Leibeigenschaft nahm ihr den Rest an sozialer Sicherheit, den sie bis dahin
gehabt hatte. Die Situation verschlechterte sich noch durch eine Reihe von
Missernten, welche grosse Teile der Landbevölkerung weiter verarmen liess. Aus diesem Grund gaben viele Menschen ihre
Heimat auf und zogen in städtische Gebiete, wo eine junge, sich entwickelnde
Industrie ununterbrochen auf der Suche nach billigen Arbeitskräften war.
Die auf diese
Weise entwurzelte Landbevölkerung war nun „frei“, aber auch ohne jeden Schutz
und ohne Mittel, die ihr ein Auskommen hätte geben können. Um die eigene
Familie durchzubringen, waren alle arbeitsfähigen Männer, Frauen und Kinder
gezwungen in den neuen Fabriken Arbeit zu niedrigsten Löhnen anzunehmen und 60
bis 70 Stunden in der Woche zu arbeiten. Die Löhne der Fabrik waren zwar höher
als die, die man den Arbeitern auf dem Lande bezahlte, aber in der Stadt musste
man die Wohnung mieten, die auf dem Lande den abhängigen Arbeitern meistens unentgeltlich
zur Verfügung gestanden hatte. Der Industriearbeiter musste zwar hart arbeiten,
aber es gab feste Arbeitszeiten, während es auf dem Lande quasi nie Feierabend
gab. Die erste Industrie, die im Jahr 1900 in Deutschland den Achtstundentag
einführte war die Fima Zeiss in Jena.
Die Landflucht führte zu einem wachsenden Bedarf an
Wohnungen in den städtischen Gebieten. Gerissene Baumeister und Immobilienspekulanten
nutzten diese Situation sofort aus und begannen mit dem Bau von Miethäusern mit vielen Kleinstwohnungen
ohne jeglichen Komfort, die sie zu horrenden Preisen vermieteten. Die berüchtigten Mietskasernen waren geboren. Während
man in England für die Fabrikarbeiter kleine Reihenhäuschen baute, die jeweils einer
Familie Platz boten, weil die Leute nicht mit anderen unter dem selben Dach
wohnen wollten, entstanden in Deutschland und in Österreich, besonders in
Berlin und Wien, riesige Wohnblöcke von denen jeder dutzende von Kleinstwohnungen
enthielt.
Diese in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Mietskasernen waren vier-
bis fünfgeschossig, enorm tief und die Wohnungen bestanden oft aus nur einem
Zimmer und einer Küche. Das meist einzige Fenster der Wohnung erhielt Licht
über einen kleinen Hof, der meistens nicht mehr als 5,30 x 5,30 Meter im
Geviert mass. Die Küchen waren in der Regel innenliegend und fensterlos.
Wasseranschluss gab es nur auf den Treppenabsätzen, wo auch die Aborte lagen.
Die Mietskasernen
bestanden aus einem Vorderhaus an der Strasse und mehreren Hinterhäusern, die
durch kleine Höfe getrennt waren. Hinter
dem ersten Hof lag ein zweiter, ein dritter usw. Es gab Mietskasernen mit sechs
Hinterhöfen. Diese grauen, dreckigen von hohen Mauern umschlossenen Höfe ohne
Sonne, bildeten die Welt der Arbeiterfamilien und ihrer Kinder.
Grundriss einer Wiener Mietskaserne des 19. Jahrhunderts
mit Kleinstwohnungen und Aborten auf den Treppenabsätzen.
Dem Geschmack jener Zeit entsprechend war die
Architektur dieser Wohnblöcke historisierend: die Gerichte hatten Fassaden, die
an griechische Tempel erinnern sollten, die Rathäuser waren gotisch und die Fassaden
der Vorderhäuser dieser Mietskasernen vereinigten alle möglichen Stile, entsprechend
dem Geschmack des Bauunternehmers oder Eigentümers (1). Die Hinterhäuser waren
hingegen schmucklos und grau. “Vorne hui, hinten pfui”, sagte man damals in
Deutschland.
Die kleinen, engen Arbeiterwohnungen waren folglich
schlecht belichtet und oft konnten sie nicht einmal richtig belüftet werden.
Einen Schornstein gab es nur in der Küche, dem einzigen heizbaren Raum. Einer
Familie mit vier und mehr Personen stand oft nur ein einziges Zimmer zur
Verfügung und in einem Bett mussten mehrere Personen schlafen. Um die Miete
bezahlen zu können, waren viele Familien gezwungen ihre Betten stundenweise an Fremde
zu vermieten.
Berlin stand im Verruf die grösste Ansammlung der Welt
von Mietskasernen zu besitzen. Im viel grösseren London lebten die Arbeiter in
kleinen Reihenhäusern und die grossen Mietshäuser in Paris und New York hatten
zumindest keine dunklen und stinkenden Hinterhöfe. In Berlin reihten sich
hingegen die Mietskasernen über Kilometer und bildeten ganze Stadtviertel, wie
zum Beispiel die Friedrichstadt. Zwischen 1850 und 1914 stieg die Zahl der
Einwohner Berlins von 420.000 auf 3,8 Millionen. Die Fabriken suchten immer
mehr Arbeitskräfte und die Immobilienspekulation liess sich keinen Quadratmeter
Bauland entgehen. Das nannte man stolz „Gründerzeit“.
Berlin. Luftaufnahme des Friedrichstadt-Quartiers mit seinen
Mietskasernen. Sehr deutlich sieht man die hintereinander liegenden Hinterhöfe.
Im Ruhrgebiet
waren die Verhältnisse nicht viel besser. Millionen Menschen lebten dort
zwischen staubigen Kohlehalden, Bergwerken, Bahngleisen, qualmenden Schornsteinen,
verrussten Fabriken und lärmigen Eisenhütten.
Schon 1870
hatten Ärzte und Hygieniker Untersuchungen über die Wohnverhältnisse der
Arbeiter angestellt, in den sie zeigen konnten, dass diese überaus engen und
primitiven Wohnverhältnisse ständig die Gesundheit der Menschen bedrohten und
die Ursache von Krankheiten und Todesfällen waren. Die Überbelegung dieser winzigen
Wohnungen schuf ideale Bedingungen für die Ausbreitung von vielerlei physischen
und psychischen Krankheiten.
Hof einer
Mietskaserne
Tausende Personen starben an Krankheiten wie Cholera
und Ruhr, die sich aufgrund dieser ungesunden Wohnbedingungen verbreiten
konnten. Schlechte Luft und wenig Licht und die Überbelegung der Wohnungen
begünstigten die Verbreitung von Tuberkulose, Rachitis, Lungenentzündung und
Diphtherie. Ein weitere Bedrohung der Gesundheit war die Ofenheizung mit Kohle.
Weil es in den Wohnungen einen Schornsteinanschluss nur in der Küche gab, wurde
die Wohnung niemals gleichmässig warm obwohl sie meisten nur aus einem einzigen
Zimmer bestand. In vielen Wohnungen wurde überhaupt nicht geheizt, weil die
Leute sich keine Kohle und Feuerholz leisten konnten. Dadurch blieben viele
Wohnungen kalt und feucht. Nicht selten befanden sich die Mietskasernen in der
Nähe der Fabriken und waren somit dem Rauch und dem Staub ausgesetzt, den die
Schlote ausstiessen.
Schon im 19.
Jahrhundert hatten verschiedene Architekten, wie R. Baumeister und J. Stübben,
versucht, eine städtebauliche Reform durchzusetzen und dazu auch die Regeln
erarbeitet, um übertrieben hohe Bebauungsdichten und die damit verbundenen
Nachteile zu vermeiden. Ihre Ideen und Mahnungen blieben jedoch völlig unbeachtet.
Die Architektur jener Zeit wurde von Architekten geprägt,
die sich der Romantik verpflichtet fühlten, wie zum Beispiel Camillo Sitte, der
von einem künstlerischen Stadtbau schwärmte und in keiner Weise an sozialen und
wirtschaftlichen Fragen der Stadtplanung interessiert war. Den Städtebau
bestimmten private Unternehmer und Immobilienspekulanten, welche die liberalen
Baugesetze bis zum Letzten ausnutzten, um höchstmögliche Renditen zu erzielen.
Dies blieb so bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.
Am 16. November 1920 schrieb Kurt Tucholsky in
der Zeitschrift „Freiheit“, dem Blatt der Unabhängigen Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands (USPD), die folgenden Sätze:
“Die deutschen Häuser in den Elendsvierteln
Berlins haben alle ein Vorhemdchen an“, hat Graf Kessler einmal gesagt. Aussen
hui. Und innen? Innen so, dass mir einmal ein zurückgekehrter Kriegsgefangener
sagte: “Ich war fünf Jahre in Sibirien. Da haben sie uns immer erzählt, wie
elend die Russen leben. Aber hier! (Er deutete auf seine jämmerliche Stube, in
der sieben Personen männlichen und weiblichen Geschlechts schlafen mussten.)
Sehen Sie sich das an. Das ist ja viel schlimmer! Und keiner hilft uns!” Und
das Traurigste ist, dass es Leuten so geht, die noch etwas verdienen. Was tun
die Arbeitslosen -? Sie vertieren.
Eine radikale Alternative
Angesichts der beschriebenen Wohnverhältnisse, in denen ein beträchtlicher Teil der arbeitenden Bevölkerung gezwungen war zu leben, überrascht es nicht, dass es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eines der ersten Anliegen der neuen sozialdemokratische Regierung Deutschlands war, diese Missstände so rasch wie möglich zu beseitigen und zwar durch den Bau ganzer neuer Stadtviertel mit Wohnungen, die „Licht, Luft und Sonne“ boten und zwar zu Mieten, die für eine normale Arbeiterfamilie erschwinglich waren.
Die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse war eine Herausforderung für viele junge Architekten, die von der historisierende Architektur des 19. Jahrhunderts genug hatten, diese der Falschheit und Verlogenheit bezichtigten, denn sie hatte sich aller historischen Architekturstile bedient, als wären es wohlfeile Versatzstücke. Um diese Falschheit anzuklagen, veröffentlichte der österreichische Architekt Adolf Loos (1870-1933) im Jahr 1908 seine berühmte Streitschrift „Ornament und Verbrechen“ (2), ein herausfordernder Text, in der Loos die soziale Wichtigkeit der Herstellung funktionaler Objekte von einfachster Form herausstellt und eine Architektur fordert, die auf jegliches dekoratives Element verzichtet.
In die gleiche Richtung zielen die berühmte Formulierung Form follows function des amerikanischen Architekten Louis Sullivan (1856-1924) und das Weniger ist mehr Ludwig Mies van der Rohes (1886-1969).
1907 wird auf Initiative von Hermann Muthesius in München der Deutsche Werkbund als wirtschaftskulturelle „Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“ gegründet. Der Zweck des Bundes war die Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen.“ Funktionale Gegenstände und Gebäude, die den Anforderungen des Industriezeitalters entsprechen, sollten mit modernen Materialien hergestellt werden.
Und Walter Gropius schreibt 1913:
„Die neue Zeit fordert den eigenen Sinn. Exakt geprägte Form, jeder Zufälligkeit bar, klare Kontraste, ordnende Glieder, Reihung gleicher Teile und Einheit von Form und Farbe werden entsprechend der Energie und Ökonomie unseres öffentlichen Lebens das ästhetische Rüstzeug des modernen Baukünstlers werden.“
Anmerkungen
(1) Als man Friedrich Schmidt, den Stadtarchitekt von Wien,
fragte, ob dieses Gebäude besser im gotischen Stil oder im Renaissancestil
gebaut sei, antwortete dieser: “ Es handelt sich um das Werk eines Künstlers,
der die gesamte Architektur der Vergangenheit verinnerlicht hat“.
(2) Loos,
Adolf: Ornament und Verbrechen, in:
Ulrich Conrads (Hrsg.): Programme und
Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Bauwelt Fundamente, Nr. 1,
Frankfurt am Main/Berlin 1964
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