Die sozialen
Probleme und der gewaltige dringende Bedarf an erschwinglichen und gesunden
Wohnungen, brachten 1919 mehrere Architekten dazu, die Ziele einer neuen
Architektur zu formulieren, die in der Lage war, auf diese Probleme zu
antworten. Bruno Taut, Walter Gropius und Hans Scharoun begannen über sie
sozialen Aspekte dieser neuen Architektur auf dem Korrespondenzwege zu
diskutieren. Diese Korrespondenz ging unter dem Namen „die Gläserne Kette“ in
die Architekturgeschichte ein.
Eines der
nach dem Ersten Weltkrieg anzugehenden Hauptprobleme war der Bau gesunder
Wohnungen, die gross genug waren, um einer Familie eine würdiges Leben zu
ermöglichen, und das zu Kosten, die es erlaubten, die Mieten auf einem für eine
Arbeiterfamilie erschwinglichen Niveau zu halten. Mit Unterstützung der deutschen Regierung
wurden zu diesem Zweck Ausstellungen organisiert und neue Siedlungen als
Demonstrationsobjekte gebaut.
Die
bevorzugten Materialien der neuen Architektur waren Eisenbeton, Stahl, Glas und
Backstein. Mit diesen Materialien liessen sich viele einfache Formen
realisieren, Kuben und stapelbare Volumen, Wände und Schotten, Decken und
vorspringende Dächer und Balkone. Das „Neue Bauen“ war geboren. Seine drei
Hauptprinzipien waren folgende:
Soziale Ökonomie: Die Wohnungsnot und der daraus
resultierende Massenwohnungsbau zwingen zur Einfachheit, Dekorationen wurden
dabei als Verschwendung angesehen. Die einfache Formensprache stellte größere
Anforderungen an den ästhetischen Anspruch des Entwurfs.
Konstruktive
Ökonomie: Die Reduktion
tragender Teile auf einzelne Punkte und Flächen erlaubt ganz neue
Gestaltungsmöglichkeiten – es ergeben sich freiere Formen bei weniger
konstruktivem Aufwand.
Stilistische
Ökonomie: Der formale Rigorismus
und die klare asketische Form repräsentieren Allgemeingültigkeit und
Objektivität und stellen ein künstlerisches Ziel dar. Dem Gedanken des
Gesamtkunstwerks folgend, in einigen Projekten bis hin zur vollkommenen
bezugsfertigen Ausgestaltung der Objekte.
Der „Zeilenbau“
In den 20er Jahren des letzten
Jahrhunderts wurden in Deutschland viele kommunale Bebauungspläne realisiert,
die den Bau von Arbeiterwohnungen zum Gegenstand hatten. Allein in Berlin
wurden zwischen 1924 und 1932 folgende Siedlungen gebaut: Siedlung Schillerpark (1924-1930,
Bruno Taut, Heinrich Tessenow), Grosssiedlung Britz (1925-1930, Hufeisensiedlung, Bruno Taut, Martin Wagner),
Wohnstadt Carl Legien (1928-1930, Bruno Taut, Franz Hillinger), Weisse
Stadt (1929-1931, Otto Rudolf Salvisberg, Martin Wagner, Bruno Ahrends, Wilhelm
Büning), Grosssiedlung Siemensstadt (1929-1934,
Ringsiedlung, Hans Scharoun, Walter Gropius, Otto Bartning, Fred
Forbat, Hugo Häring, Paul Rudolf Henning).
Alle diese Bebauungspläne basierten auf
den Ideen und Prinzipien des „Neuen Bauens“. Ein Bautyp, der in jenen Jahren
aufkam, war der mehrgeschossige, freistehende Wohnblock, eine Alternative zur
bisher üblichen Blockrandbebauung. Dieser
neue Gebäudetyp wurde „Zeile“ genannt und war wiederholbar. Seine Anordnung auf
dem Baugelände war unabhängig von der Strassenführung. Jede Zeile hatte von der
nächsten einem Anstand, der eine ausreichende Besonnung garantierte
(Entsprechend dem Motto „Licht, Luft und Sonne). Die zwischen den einzelnen
Zeilen liegenden Freiräume standen den Bewohnern als allgemeine Grünflächen zur
Verfügung. Dieses städtebauliche Konzept wird allgemein „Zeilenbau“ genannt.
Blockrandbebauung - Wohnzelle Grunaer Strasse in Dresden
Im Vergleich zur Blockrandbebauung, hat der Zeilenbau zweifellos den Vorteil,
dass er eine gute Belichtung und Belüftung der einzelnen Wohnungen garantiert.
Die Verschattung der Baukörper ist sehr gering.
Zeilenbau – Siemensstadt Berlin
Walter Gropius, einer der bekanntesten
Verfechter des Neuen Bauens, hat dieses städtebauliche Konzept mit folgenden
Worten erläutert: „Im Vergleich zu den traditionellen Baublöcken haben die
parallelen Wohnzeilen den grossen Vorteil, dass man allen Wohnungen eine
günstige Ausrichtung geben kann“. Offen blieb die Frage: Welches ist die beste
Ausrichtung?
Sigfried Gideon (1) fasste das knapp zusammen
„Die Grundlage des Städtebaus muss die Orientierung nach der Sonne sein“ und
Walter Gropius (2) schrieb: „Was die natürliche Belichtung und die Besonnung angeht,
und wenn man alle wirtschaftliche und hygienische Gründe berücksichtigt, dürfte
die Nord-Süd-Ausrichtung eines Baublocks (einer Zeile) die relativ Beste sein“.
Diese Nord-Süd-Ausrichtung findet man in
vielen neuen Siedlungen der zwanziger Jahre. Bei dieser Orientierung erhalten
die Wohnungen Sonne sowohl von Osten als auch von Westen. Der Grund für diese
Orientierung ist leicht zu begreifen. Es ist der normale Tagesablauf eines
arbeitenden Menschen. Bei dieser Orientierung erhält eine Wohnung Sonne am
Morgen, bevor man zur Arbeit geht und am Abend, wenn man von der Arbeit
heimkommt. Die Zimmer sollten daher folgendermassen angeordnet sein: das Wohnzimmer nach Westen, die Küche und das
Bad nach Osten und die Schlafzimmer wahlweise nach Osten (am besten) oder
Westen.
Lewis Mumford (1895-1990), ein amerikanischer
Stadt- und Städtebauhistoriker, hat sich mehrfach zustimmend über die neue Art
des Siedlungsbaues ausgesprochen. So heisst es bei ihm (3): “Above all,
Zeilenbau permits the orientation of the whole community for a maximum amount
of sunlight. In every other type of plan, a certain number of rooms will face
north, but in Zeilenbau, when a correct orientation is established, every room
and every apartment share equally in the advantage”.
Der Zeilenbau
wurde zu einem Kennzeichen des modernen Städtebaus: Frühe Beispiele findet man
in Amsterdam (C. van Eesteren), in Dessau-Törten (W. Gropius), in Frankfurt-Römerstadt
(E. May), in Karlsruhe-Dammerstock (O. Haesler e W. Gropius) und in der
Werkbund-Siedlung Neubühl bei Zürich.
Verschiedene neuere Autoren haben den
Grund der Nord-Süd-Ausrichtung der Baublöcke nicht verstanden (4). Sie
vergessen, dass es den Architekten damals nicht darum ging, die Sonne als Wärmequelle
auszunutzen, sondern vielmehr darum, den Arbeitern, die meisten nur morgens und
abends in ihrer Wohnung sind, in diesen Zeiten etwas Sonne zu verschaffen. Sie
vergessen ausserdem, dass, wenn man die Wohnzimmer nach Süden orientiert, es
immer Räume gibt, die zwangsläufig nach Norden ausgerichtet sind und deshalb
nie Sonne erhalten. Und warum muss ein Wohnzimmer Sonne erhalten, wenn die
Familie tagsüber nicht zuhause ist. Wollen diese Autoren vielleicht das
Wohnzimmer in ein Solarium verwandeln?
Die gleichen Autoren unterstellen den deutschen
Architekten des Neuen Bauens Absichten, die diese nie gehabt haben. Keiner
dieser Architekten hatte die Absicht, Wohnungen mit der Sonne zu heizen. Bei
dem damaligen energetischen und technischen Gebäudestandard wäre das auch niemals
möglich gewesen. Für diese Kritiker der Nord-Süd-Ausrichtung der Baublöcke ist
die Sonnenenergienutzung jedoch eine Ideologie, die erst 1972, nach dem
Erscheinen des Buches „Die Grenzen des Wachstums“ von Dennis L. Meadows (Club
of Rome) entstanden ist. Die damalige Zielsetzung war aber nicht
energiepolitischer, sondern sozialer Art.
Das Hauptziel der Wohnungspolitik der
20er Jahre war die Realisierung einer möglichst grossen Zahl von gesunden und
gut belichteten Wohnungen, die gross genug waren, um den Bedürfnissen einer
durchschnittlichen Arbeiterfamilie gerecht zu werden. Von Solararchitektur war
absolut keine Rede. Es gab keine Energiekrise wie in den 70er Jahren. Die neuen
Wohnungen hatten Zentralheizung; geheizt wurde mit Kohle, Koks oder Stadtgas;
Erdöl und Erdgas waren als Brennstoffe noch unbekannt.
Anmerkungen
(1)
Giedion,
Siegfried: Befreites Wohnen. Zürich/ Leipzig 1929, p. 14
(2)
Gropius,
Walter: Gross-Siedlungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 12/29, S. 233
(3)
Mumford Lewis: Machines for Living, p. 87 (???)
(4)
Ken Butti &
John Perlin, schreiben in ihrem Buch A
Golden Thread (Palo Alto 1980), Seite 168: “The Zeilenbau plan did not work
as well as hoped. The winter sun is in the south all day – rising in the
southeast, moving due south at noon, and setting in the southwest. Thus, the
east and west windows received only modest amounts of sunlight on winter days
because the sun’s rays struck them at a glancing angle. And in summer just the
opposite occurred – the bright rays of the morning and afternoon sun came
straight into the east and west-facing rooms”.
(5)
Hilberseimer
Ludwig, Raumdurchsonnung, in: Moderne Bauformen, Bd. 34, Teil I (Januar 1935)
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